Kiezküche // Refugees Welcome: Charity im Kochtopf

Kiezküche // Refugees Welcome: Charity im Kochtopf
Kiezküche // Refugees Welcome: Charity im Kochtopf

Keine Angst. Bei „Kiezküche // Refugees Welcome“ geht es nicht um die Stellenanzeige eines Striplokals auf St. Pauli, das Geflüchtete als Tellerwäscher einstellen will, damit sie im Milieu Millionäre werden. Vielmehr sind es Geflüchtete selbst, die bei diesem bunt garniertem Kochbuch das Essen aus Hamburg und Berlin heraus auf die Teller und deren begrenzenden Rand hinaus zaubern.

Die Rezepte stammen aus der jeweiligen Heimat der Geflüchteten, also vornehmlich aus Afghanistan, Eritrea und Syrien. Ebenso finden sich Gerichte aus der Türkei, Brasilien und sogar ein klassischer deutscher Kartoffelsalat. Alle in bester Harmonie vereint und sich teilweise sogar Zutaten teilend.

All die persönlichen Speisen werden in „Kiezküche // Refugees Welcome“ mit ebenso individuellen Geschichten und authentischen Bildern verfeinert und zeigen als Gesamtbild, dass der Hunger auf Heimat zumindest zeitweilig auch auf fremden Herdplatten gestillt werden kann.

Mujadara ©Kiezküche GmbH

Mujadara ©Kiezküche GmbH

Die Macher hinter diesem kleinen Culinaria-Kunstwerk sind allesamt auf Ehrenamt und spenden den gesamten Gewinn an „Kiezhelden“, das soziale Projekt des FC St. Pauli, das die Erlöse wiederum als Direkthilfe an Flüchtlingsprojekte verteilt – auch an Geflüchtete, die sich in „Kiezküche // Refugees Welcome“ in die Kochtöpfe gucken lassen.

Erste Erlöse und Umsetzungserfolge wie beispielsweise die Zusammenführung einer syrischen Familie in einer eigenen Wohnung, konnten bereits vermeldet werden.


 
Migrationsmahlzeiten als Motivation
Die Motivation, das 33 Rezepte und 143 Seiten starke Kochbuch zu realisieren, so Kiezküche- Mitgründerin und -Autorin Sandra Vartan, sei an sich schon das Ergebnis vieler verschiedener Zutaten. Zum einen habe man bereits in den kulinarischen Stadtteilführern „Kiezküche // St. Pauli“ und „Kiezküche // Kreuzberg & Neukölln“ Geflüchtete mit eingebunden und so eben ein entsprechendes Netzwerk aufgebaut. Zum anderen trug Hamburgs upcoming Drag Queen Nummer 1 Dennis Totzke, aka Valery Pearl die Idee an die Kiezküchen-Macher heran, ein Kochbuch mit und für Geflüchtete zu machen. „Wir waren sofort Feuer und Flamme für das Projekt und haben mit der Planung losgelegt. Im Sommer 2016 ist das Buch dann erschienen“, erläutert mir Sandra Vartan weiter.
 
Dass nicht nur die Küche als Knotenpunkt für Kulinarisches dienen kann, zeigt auch die Tatsache, dass die meisten Kontakte zu den Geflüchteten über „Kiezküche // Refugees Welcome“ – Mitautorin Sünje Nicolaysen hergestellt wurden. Als ehrenamtliche Dozentin unterrichtet sie seit mehreren Jahren Geflüchtete in einem „Sprachcafé“ an der Uni Hamburg. Viele ihrer Schülern schwangen also, von den sprachlichen Gaumenkitzlern inspiriert, den Kochlöffel und wirkten am Buch mit. Am Ende serviert die Kiezküche ein reich sortiertes Defilee spannender Geschichten und grandioser Gerichte.
 
Kichererbsen, auch wenn es nichts zu lachen gibt
Ich vermute, dass es Amir, dem Bankkaufmann aus Damaskus, ähnlich wie vielen Geflüchteten geht, die an „Kiezküche // Refugees Welcome“ mitgearbeitet haben: Lachen und Frohsinn waren in den letzten Jahren nicht ihre ständigen Begleiter. Wohl auch nicht in Deutschland. Umso erfrischender und ermutigender, dass ihre Gerichte dennoch so viel Lebensfreude aussenden. Das gilt natürlich nicht nur für die Favabohnen mit Kichererbsen, die Amir präsentiert.
 
Ful_Favabohnen mit Kichererbsen©Kiezküche GmbH

Ful_Favabohnen mit Kichererbsen©Kiezküche GmbH

Es gilt ebenso für die 32 anderen Rezepte, über deren „Herkunft“ und „Heimat“ man ebenso viel erfährt wie über deren Kiezküchen-Köche. Vor allem aber versteht man, dass auch wenn manche Gerichte eher in Afghanistan, Syrien oder Eritrea beheimatet sind, sich die Zutaten nicht nur dort finden lassen. „Kiezküche // Refugees Welcome“ illustriert, dass Kitchen Global nicht impossible sein muss.

Lecker sind Gerichte wie Ghanaisches Fufu, Moccacino Tarte, Manakish, Moumanyeh oder auch Harissa, Tsebhi Quanta und Hanseatenburger auf jeden Fall und Teller.

Moccacino-Tarte ©Kiezküche GmbH

Moccacino-Tarte ©Kiezküche GmbH

Promi-Patisserie
Bela B., der das Vorwort zu „Kiezküche // Refugees Welcome“ verfasst hat, bringt es gleich zu Beginn auf den Punkt: Das gemeinsame Essen ist ein wichtiges Bindeglied, das Menschen zusammenbringt. Das gemeinschaftliche Zubereiten und Teilen von Speisen schafft Nähe. Ein wenig wie beim Abendmahl, nur ohne Jesus und Jünger, dafür aber mit dem Medicus-Veteran und eben zu allen Tageszeiten.

Natürlich wünschen sich viele Köche nicht nur in der Enge der Fastfood-Brätereien eher mal ein wenig mehr Freiraum am Herd, doch sind sie ihren Gästen dennoch immer verbunden – über ihre Passion, ihre Kreationen und darüber, dass es den Gästen schmeckt. Um diesen Geschmack nicht zu verderben, verzichtet der Ärzte-Drummer gar darauf, seine Papp-Pasta zu servieren und behält sie als „Notration im Schrank“, zugunsten syrischer Joghurtsuppe.

Auch andere (Kiez)-Promis lassen sich in ihre Gulaschkanonen schauen und runden damit sozusagen das Bouquet des Buchs ab. Beispielsweise verrät die Journalistin und Fernsehmoderatorin Dünya Hayali, wie und wann sie eine Ausnahme von ihrer fleischlosen Ernährung machen würde. Tipp: Es kommt nicht aus der ZDF-Kantine.

Die Politikerin Sevim Dagdelen plaudert ein wenig über ihre in Anatolien selbst geernteten Kartoffeln (!). Profi-Fußballer Neven Subotic, dessen Familie aus dem Bosnien des Bürgerkriegs 1990 in die Baden-Württembergische Provinz flüchtete, erkennt, dass die Möglichkeit, sich Farbe und Geschmacksrichtung von Schokolade aussuchen zu können, für ihn auch eine Form des Reichtums darstellt.

Einige seiner eigenen liquiden Mittel setzt Subotic seit Jahren übrigens für seine Stiftung ein, die Trinkwasser- und Sanitärprojekte in Entwicklungsländern unterstützt. Im Buch jedenfalls lässt er den Ball ausnahmsweise mal in Form von Bosnischem Rollbrot laufen, das ihm wiederum der FC-St.-Pauli-Profi Enis Alushi mit seinen pikanten Hähnchenschenkeln hoffentlich nicht ablaufen wird.

Hähnchenschenkel ©Kiezküche GmbH

Hähnchenschenkel ©Kiezküche GmbH

Schauspielerin Maria Ketikidou packt ihre griechischen Wurzeln am Schopf und serviert Okraschoten in Tomatensauce und Sami Amara von den Broilers kocht respektlosen Mist wie Rassismus auf hoher Flamme zu Entgegenkommen und Respekt auf allen Seiten. Mit Pommes. Slime, LeFly, Megaloh, Irie Revoltes und Silbermond runden diw Bratriege der Bands geschmackvoll ab.


 
Schließlich darf auch noch das Kabinett den Kochlöffel schwingen – in Person von Staatsministerin Aydan ÖzoÄŸuz, der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration.
 
Feinstes Ausländer-Allerlei und das á la carte
„Kiezküche // Refugees Welcome“ bietet im besten Sinne buntes Ausländer-Allerlei und das á la carte. Kulinarisch und mit seinen Collagenhaft angeordneten Interviews, Reportagen und anderen interessanten Entrecôtes, die den Lesehunger gleichzeitig stillen und anregen, erfährt man viel über den Kiez und dessen Culinaria – und will am Ende noch mehr wissen.


 
Man erfährt aber ebenso eine Menge über die stillen Helfer: Initiativen und Vereine wie MS Sea-Watch, Laut gegen Nazis, die Kleiderkammer Messehallen, Welcome Dinner Hamburg oder auch der FC Lampedusa bekommen die Spots und Slots, die ihr sonst eher im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung stehendes ehrenamtliches Engagement verdient.
 
Fazit: Die Authentizität in „Kiezküche // Refugees Welcome“ regt den Bock auf Lesestoff richtig an. Die Bilder, das Design und feinste Finger-Food-Haptik schließlich unterstreichen, dass das Kitchen-Tantra „Das Auge isst mit“ in jeder Ersteheungsphase dieses Buchs verinnerlicht wurde. Auf jeder einzelnen, menschlichen Seite.
 
Cover_Kiezküche_Refugees Welcome ©Kiezküche GmbH

Kiezküche // Refugees welcome

Text: Sebastian Meißner, Sünje Nicolaysen, Sandra Vartan
Design: Rabea Meyer
Fotografie: Jean Graisse, Martin Kress

ISBN: 978-3-9817671-2-4
Seiten:143
Preis: € 24,90

Kiezküche GmbH

About the author

Marcello Buzzanca ist freier Texter, Redakteur, Blogger und Autor.