Wenn man (im Sauerland) Sundern sagt, schwingt die Mystik des Heiligen Franz Müntefering immer mit. So wie bei Klangschalen eben. Dass jedoch die Bastion des SPD-Granden auch in einem anderen Ton als Rot schillern kann, zeigt die Farbenlehre des Kreisverbands Hochsauerland von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Neben Verena Verspohl, NRW-Landtagskandidatin für den Hochsauerlandkreis, soll auch Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion, über Abschiebungen, Grenzschließungen, Integration im Allgemeinen und im Sauerland-Sundern-Spezifischen sprechen, horchen und herzen – im Tagwerk in Sundern.
Als wollte man dem Doppelpass-Diplomaten die Einreise ins Sauerland erschweren, hat man wohl vergessen, ihn über eine Baustelle zu informieren, Das führt letztlich dazu, dass Nouripours temporäre Integration in Sundern zunächst einmal auf sich und ihn warten lässt.
Gesprächszündstoff
Ist aber nicht schlimm, denn Gesprächsstoff gibt es unter den rund 30 Teilnehmenden sowieso zur Genüge. Redebedarf hat wohl auch der Mann mit Kappe, der sich mir schräg gegenüber setzt, an seinem Bier nippt und mich fragt, wofür ich denn so schreibe. „Ach, nur mein eigens Blog!“ Skeptischen Blicks führt er sein Bierglas zum Mund. Und wo denn meine Wurzeln lägen, will er auch wissen. Ich sage: Italien. Er zieht die Augenbraun hoch, als nippte er gerade an einem sehr edlen italienischen Wein, dabei ist es wohl nur ein Warsteiner. „Ich hätte Sie eher weiter südöstlich eingeordnet!“ „Malta?“ denke aber sage ich nicht, sondern frage ihn: „Und wo sind so Ihre Wurzeln?“
Kaum, dass sich mein Mund geschlossen hat, beiße ich mir auf meine vorlaute Zunge, denn der Mann hat wirklich Redebedarf. Sein Vater sei aus den ehemaligen Ostgebieten geflohen, aber erst nach der Kriegsgefangenschaft. Und sein Name stamme aus Bayern, da nämlich sei seine Familie ursprünglich her. Dann wendet er sich den beiden Herren neben ihm zu und will auch von ihnen wissen, wo sie „ursprünglich“ herkommen. „Aus Afghanistan? Und welchem Stamm gehören Sie an? Es gibt ja mehrere Stämme in Afghanistan. Paschtunen und so.“
Beide lachen verlegen, denn tatsächlich ist einer Paschtune. Die Stammeszugehörigkeit des anderen geht im Rülpser des Fragenden unter, der zudem mit der Ausführlichkeit der Antwort noch nicht zufrieden ist. „Und woher aus Afghanistan kommen sie?“ Bevor er die Chance hat, seine imaginäre Landkarte auf den Tisch im Tagwerk in Sundern zu packen, antworten beide. Kabul! „Da haben Sie ja Glück, weil das kennen ja die meisten Deutschen!“
Prolog zur Politik
Soweit der Prolog. Und jetzt kommt die Politik. Omid Nouripour hat seine Sauerland-Tour tatsächlich heil überstanden und ist plötzlich im Raum. Und dann geht es nahtlos in die Vollen des Vorwahlkampfs. Verena Verspohl eröffnet die Veranstaltung, schlägt vor einen Von-Makro-zu-Mirko-Bogen zu schlagen: Bundesaußenpolitik, Nordrhein-Westfalen, Hochsauerlandkreis.
Und dann packt Nouripour seine ganze Erfahrung und Reiseliteratur als außenpolitischer Sprecher der Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion auf den runden Stehtisch, an dem er sitzend erzählt: über Etikettensichere Herkunftsstaaten, über die insgesamt gute Arbeit der Bundesländer, was die große Zahl an Geflüchteten und deren Unterbringung und Versorgung angeht – auch und vor allem in Bayern. Und das gerade dort die Regierung das nicht wahrhaben und publik machen will.
Omid Nouripour erzählt zudem von einem Köfferchen mit 23 „Milliönchen“ Euro, die Entwicklungsminister Gerd Müller mi auf seine Reise nach Eritrea nimmt, Diktator Isayas Afewerki in die Hand drückt und diesen bittet, diesen unsäglichen lebenslangem Militärdienst doch mal abzuschaffen, weil das ja der wichtigste Fluchtgrund für Hundertausende Flüchtlinge aus dem in außenpolitischen Insiderkreisen als „Nordkorea Afrikas“ oder auch „Gulag unter freiem Himmel“ bekannten/benannten ostafrikanischen Landes. Afeweki nimmt das Geldköfferchen, verspricht über die Zwangsrekrutierung von Eritreerinnen und Eritreern zwischen 18 und 50 Jahren nachzudenken und kaum, dass der Entwicklungsminister seinen Fortschritt im Flieger feiern will, hat es sich Afewerki wieder anders überlegt. Das Geld aber bleibt, so wie „Waffen bleiben, auch wenn Diktatoren gestürzt werden“.
Über den Wolken herrscht Vakuum
Ich muss es zugeben: Die Eloquenz und das Fachwissen Omid Nouripours verweben sich während des Abends in einen (pardon) orientalischen, flauschigen und gleichzeitig harten, farbenfrohen und weltgewandten Quilt . Dabei besteht diese vielseitig verwendbare Zierdecke tatsächlich aus vielen Lagen, von denen einige sehr angespannt sind. Nouripour spricht über Sammelflugabschiebungen von Afghanen, auch als Reaktion auf die Vergewaltigung und Ermordung der 19-jährigen Studentin Studentin Maria L. durch einen im November 2015 als Flüchtling nach Deutschland gekommenen Afghanen. „Wenn der Täter (in Freiburg) Marsianer gewesen wäre, hätte man Sammelabschiebungen zum Mars organisiert!“ Zu astronomischen Summen, schätze ich.
Er berichtet weiter, wie sich Markus Söder darüber aufregt, dass der Steuerzahler für die Kosten eines Fliegers aufkommen muss, mit dem 18 Menschen zurück in ihr Herkunftsland geflogen werden. Dabei, so Nouripour, weiß Söder wohl nicht, dass in Finnland letztens eine Boeing gechartert wurde, um 2 Menschen auszufliegen.
Omid Nouripours außenpolitischer Job hat ihn bereits 14 mal nach Afghanistan geführt – und gefühlt mindestens genauso oft um die Welt, die momentan leider durch Flucht und Fluchtabwehrreflexe angetrieben wird. „Migration ist ein Trauma! Heimatverlust ist ein Trauma!“ Während ich noch diesen beiden Ausrufezeichen Nouripours hinterher sinne und höre, wie er von seiner Begegnung mit Peschmerga und deren Stolz auf ein Gewehr aus dem 1.Weltkrieg als Waffe erzählt oder auch von Zebulon Simentov, dem einzig verbliebenen Juden in Afghanistan, dem sogar ein Wikipedia-Eintrag gewidmet ist, werde ich plötzlich von einer Frage aus meinem Boot, dass Nouripours Erzählfluss entlang gleitet, gerissen. „Was droht iranischen Atheisten, wenn sie abgeschoben werden?“ „Die Todesstrafe!“ Wahrscheinlich unter „#Zynismus“ als Gottesurteil, denke ich bei mir.
Sprachstandsbewegung
Dann ein Switch in Sprache und Spannung, der mich und alle anderen im Saal elektrisiert. Der Einschub, man können Omid Nouripour auch auf Dari etwas fragen, ermutigt und ermöglicht es einigen der anwesenden Afghanen, sich einzubringen. Und es ist fast wundersam, wie der außenpolitische Sprecher der Bündnis 90/Die Grünen mit hessischem Einschlag in dem einen oder anderen Laut, plötzlich und problemlos den Sprachhebel umlegt, übersetzt und antwortet. Auf Dari und Deutsch. Warum es keine Sprachkurse für Afghanen gäbe, weil einer der Anwesenden wissen. Es gibt welche. Nur wenige, lautet die Antwort.
Apropos Antworten auf Sprachen und solche, die in Kursen vermittelt wird. Hier setzt sich Omid Nouripour dafür ein, dass gerade die Orientierungsstunden in den Integrationskursen von den Kommunen ausgerichtet werden sollten. Schließlich wüssten diese doch am besten, was die Menschen in Sachen neuer Heimat wissen sollten und möchten. „Für Menschen, die in Rüsselsheim im Integrationskurs sitzen, ist die Geschichte von Opel wichtiger als der Brocken im Harz.“
Und was Antworten auf Fragen nach Integration angeht: „Wenn ein Politiker kommt und sagt, dass er Integration will, sollten Sie ihm zwei Fragen stellen: 1. Was genau meinen Sie mir Integration? 2. Wie viel Geld wollen Sie dafür ausgeben?“ Man sollte, so Nouripour weiter, auch nicht vergessen, dass wenn man Integration in Deutschland pauschal als gescheitert abstempelt, man auch die immense gesellschaftliche Leistung aberkennt. Schließlich ist es diese Gesellschaft, die mit Recht sagen können „WIR haben das geschafft!“
Die 2-Million-Frage
Es kommen noch weitere Fragen auf, die sowohl auf lokaler wie auch auf globaler Ebene weder einfach noch schnell zu beantworten sind: „Wenn ich nächsten Samstag in der Fußgängerzone stehe und die Leute sagen: Ok, die 1. Million Flüchtlinge haben wir geschafft. Aber was machen wir, wenn die 2. Million kommt?“
Es sind sehr komplexe wenngleich einleuchtende Zusammenhänge, die Nouripour erläutert – ein Teufelskreis aus dramatischer Klimaveränderung, Flucht aufgrund von Hungersnöten, Lobbyisten und in gewisser Weise auch die Politik, die die Situation in den Krisenländern vor Ort oft in Geldkoffern versiegeln will.
Das wiederum zeigt, wie sehr sich Industrienationen wünschen, dass die Flüchtlinge eben nicht flüchten, zumindest nicht zu ihnen. Und dies spielt Diktatoren und Warlords in die Hände, spüren sie dann doch noch erst, wie groß ihre Macht eigentlich ist, wenn sie Millionen von Menschen als Faustpfand missbrauchen, und sie – wenn die westliche Welt nicht spurt und alles liefert, was sie wollen – von heute auf morgen Richtung Europa schicken können.
Ich schaue auf meine Notizen: „Integration braucht Herz und Verstand“, so das Motto dieses Diskussionsabends. Check! Ich werfe noch einen Blick auf den Ausdruck des Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Einwanderungsgesetzes, den die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen einige Tage zuvor eingebracht hatten.
Da war doch noch was, denke ich, während ich meine Fragen zu Wortschöpfungsbandwürmern wie Liberalisierung und Entbürokratisierung arbeitsplatzgebundener Einwanderung, angebots- bzw. potenzialorientierte Einwanderung, Bildungsmigration als Markenkern einer zeitgemäßen Einwanderungspolitik oder auch das hohe Buzzword-Potential beim Begriff „Talentkarte“ betrachte. Aber nach so viel spannendem Weltwissen klingen selbst die grünen Stilblüten – so durchdacht sie auch sind – eher fade.
Egal, schließlich geht es ja um „Zusammen und miteinander“ und um „Herz statt Hetze“, also keine Eile beim Zusammenreimenlassen der entworfnenen Einwanderungsgesetzeinführung.